DBRD-Algorithmus: Anaphylaxie Erwachsene & Anaphylaxie Kind
NUN-Algorithmus: Allergischer Schock (Grad 2+3)
Unter einem Angioödem (auch Quinckeödem) versteht man eine ödematöse Schwellung der Subkutis (Unterhaut). Angioödeme treten unter anderem im Bereich der Haut im Gesicht und den Extremitäten, sowie im Mund-Rachen-Bereich auf. Es können auch innere Organe wie der Magen-Darm-Trakt betroffen sein.
In der Regel sind Angioödeme der inneren Organe und der sonstigen Haut eher unproblematisch, während Angioödeme im Bereich des Mund-Rachen-Bereichs zu lebensbedrohlichen Atemwegsverlegungen führen können.
Die Differenzierung zwischen Anaphylaxie und akutem Angioödem ist im Rettungsdienst erschwert, da eine genaue Abgrenzung der Symptome und damit der Krankheitsbilder nur schwer möglich ist.
Ursache & Symptome #
Man unterscheidet zwischen Mastzellen-vermittelten Angioödemen, welche häufig mit Juckreiz und Urtikaria (Nesselsucht) einhergehen und Bradykinin-vermittelten Angioödemen, bei denen diese Symptome fehlen. Die durch Bradykinin-vermittelten Angioödeme sind hauptsächlich hereditär (vererbt) oder erworben.
Mastzellen-vermittelten Angioödemen #
Mastzellen- bzw. Histamin-vermittelte Angioödeme werden häufig durch allergische Reaktionen (z.B. Nahrungsmittel, Insektengift, Medikamente, etc.) ausgelöst.
Durch die Freisetzung von Histamin kommt es durch Wirkung an den H1-Rezeptoren zu einer Vasodilatation und einer Hyperpermeabilität der Gefäße. Es folgt neben einem Blutdruckabfall die Ödembildung, da es zu einer Volumenverschiebung von intra- nach extravasal kommt.
-> hier mehr erfahren: Anaphylaxie – von der Erdnuss bis zum Tod
Die Symptome sind ähnlich denen einer Anaphylaxie. Bezogen auf das Angioödem kommt es neben der Ödembildung in den o.g. Bereichen zu Juckreiz und der Ausbildung einer Urtikaria.
Bradykinin-vermittelten Angioödeme #
Ursache für das hereditäres Angioödem (HAE) ist ein Gen-Defekt, weshalb häufig eine familiäre Prädisposition besteht. Akute Auslöser können Traumata, psychische Stresssituationen und aktuelle Infekte sein. Ebenfalls kann es bis zu 36 Stunden nach Operationen im Mund-Rachen-Bereich zu Ödemattacken kommen.
Durch den Gendefekt wird das Eiweiß C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) nicht ausreichend gebildet oder kann seine Funktion nicht ausüben. Dies hat zur Folge, dass es bei der Bildung von Bradykinin zu Problemen kommt und dieses unkontrolliert ausgeschüttet wird, wodurch die Wirkung massiv verstärkt wird. Bradykinin ist ein Peptid- und Gewebshormon, welches eine ähnliche Wirkung wie Histamin besitzt und an Entzündungsprozessen beteiligt ist. Es sorgt bei Bindung an Bradykininrezeptoren im Gefäßendothel für eine erhöhte Gefäßpermeabilität, senkt den Blutdruck durch Vasodilatation und sorgt für eine Volumenverschiebung von intra- nach extravasal.
Bei der erworbenen Form des Angioödems handelt es sich häufig um ACE-Hemmer-induzierte Angioödem. Die Einnahme von ACE-Hemmer und Sartanen kann die Neigung zu Ödemattacken massiv verstärken. Ein durch ACE-Hemmer-induziertes Angioödem kann bis zu 10 Jahre nach der Ersteinnahme des Präparats auftreten.
Die Symptome sind neben der Ödembildung Hautschwellungen ohne Juckreiz / Urtikaria, stattdessen kommt es zu einem Spannungsgefühl der Haut, im späteren Verlauf auch zu Schmerzen und Brennen. Unregelmäßig treten krampfartige Abdominalschmerzen und Übelkeit mit Erbrechen auf. Es kann zu Aszites kommen, welche sich aber zurückbildet.
Therapie #
Alle Angioödeme sollten klinisch abgeklärt werden. Bei Angioödemen im Kopf-Hals-Bereich sollten neben der symptomorientierten Therapie folgende Maßnahmen zwingend erfolgen:
- Allergen entfernen! (z.B. Stachel entfernen, Medikamentengabe stoppen)
- angepasste Lagerung (Schocklage, Ausnahme: B-Problem, dann Oberkörper hochlagern)
- Anlage eines großvolumigen i.v.-Zugangs (bei ausgeprägter Zentralisation: frühzeitig i.o.-Zugang)
- adaptierte Sauerstoffgabe (min. 10l/min über Maske)
Bei akuten A- und B-Problemen (inspiratorischer Stridor, niedrige O2-Sättigung, Schluckstörung) sollte eine frühzeitige und großzügige Indikation zur Intubation und Beatmung gestellt werden. Bei Intubation sollte eine Koniotomie- oder Tracheotomiebereitschaft bestehen, da die Manipulation des Ödems zu einer massiven Verstärkung der Schwellung und damit zur vollständigen Atemwegsverlegung führen kann.
Medikamente #
Mastzellen-vermittelten Angioödemen #
Die Behandlung eines Mastzellen- bzw. Histamin-vermittelte Angioödeme erfolgt im akuten Fall mit Auftreten von lebensbedrohlichen Symptomen analog zur Therapie der Anaphylaxie.
- Epinephrin
Bei einer Anaphylaxie rettet nur die Gabe von Epinephrin den Patienten. Diese sollte frühestmöglich i.m. in den lateralen Oberschenkelmuskel erfolgen. Die intramuskuläre Applikation führt zu bedeutend weniger Nebenwirkungen als die i.v.-Gabe und sollte auch aufgrund der Zeitersparnis immer bevorzugt werden. Die Gabe von Epinephrin i.m. sollte im Zweifel bei jeder Anaphylaxie durchgeführt werden, die über Hautsymptome herausgeht. Sie kann bei Nichtansprechen alle 5 Minuten wiederholt werden
WICHTIG: Gemäß Anaphylaxie-Leitlinie 2021 erhalten Erwachsene ab sofort 0,6 mg Adrenalin i.m.!
intramuskulär | Erw: 0,6 mg i.m. 6 – 12 LJ: 0,3 mg i.m. < 6 LJ: 0,15 mg i.m. (Wiederholung alle 5 min möglich) |
inhalativ | 2 – 4 mg pur inhalativ |
- Volumengabe: 500 – 1000 ml kristalloide Infusionslösung (bei Kindern: 20 ml/kgKG)
Durch den großen Verlust von Plasmavolumen mit der Folge eines intravasalen Volumenmangels und der Gefahr eines hypovolämen Schocks ist eine Volumengabe dringend erforderlich. - Prednisolon: 250 mg i.v.
Es gibt keinen Nachweis über die Wirkung von Glukokortikoiden im Rahmen der akuten Anaphylaxie. Die Gabe sollte zusätzlich erfolgen, wenn keine Basismaßnahmen verzögert werden. Eine Wirkung tritt frühestens nach 20 – 30 Minuten ein und kann ggf. vor einer zweiten Reaktion schützen.
Die Gabe von H1- und H2-Blockern wird in aktuellen Studien und der Leitlinie nur empfohlen, wenn keine anderen Maßnahmen verzögert werden. Da Histamin nicht der alleine Entzündungsmediator ist, wirkt eine alleinige Blockade von Histamin in der Akutsituation nicht.
- Clemastin: 2 mg i.v.
- Dimetinden: 4 mg i.v.
Ranitidin: 50 mg i.v.(wird aktuell nicht mehr empfohlen, weitere Informationen: Risikobewertungsverfahren des BfArM)
Bradykinin-vermittelten Angioödeme #
Zur Akuttherapie des hereditären Angioödems stehen in Deutschland Icatibant (BR2-Antagonist) und C1-INH-Konzentrate bereit. Diese werden in der Regel nicht auf Rettungsdienstfahrzeugen mitgeführt, sondern stehen nur in ausgewählten Kliniken zur Verfügung.
Für die Behandlung von ACE-Hemmer-induzierten Angioödemen steht bislang keine medikamentöse Therapie zur Verfügung. Die Therapie erfolgt hier analog derer von Mastzellen-vermittelten Angioödemen.
Differentialdiagnostik #
- Anaphylaxie
- abdominelle Erkrankungen
Quelle #
- Bastigkeit, M. (2019). Medikamente in der Notfallmedizin. Edewecht, Deutschland: Stumpf + Kossendey.
- Bork, K., Aygören-Pürsün, E., Bas, M., Biedermann, T., Greve, J., Hartmann, K., Magerl, M., Martinez-Saguer, I., Maurer, M., Ott, H., Schauf, L., Staubach, P. & Wedi, B. (2019). Guideline: Hereditary angioedema due to C1 inhibitor deficiency. Allergo Journal International, 28(1), 16–29. https://doi.org/10.1007/s40629-018-0088-5
- Deutscher Berufsverband Rettungsdienst e.V. (DBRD). (2022). Muster-Algorithmen 2022 zur Umsetzung des Pyramidenprozesses im Rahmen des NotSanG. https://www.dbrd.de/images/algorithmen/DBRGAlgo1221_Web1.pdf
- Hahn, J., Hoffmann, T. K., Bock, B., Nordmann-Kleiner, M., Trainotti, S. & Greve, J. (2017). Angioedema. Deutsches Aerzteblatt Online, 489–496. https://doi.org/10.3238/arztebl.2017.0489
- LV ÄLRD Niedersachsen / Bremen. (2022). „NUN – Algorithmen“ zur Aus- und Fortbildung und als Grundlage zur Tätigkeit von Notfallsanitätern(innen) in Niedersachsen. https://lard-nds.de/download/nun-algorithmen-2022/
- Ring, J., Beyer, K., Biedermann, T., Bircher, A., Fischer, M., Fuchs, T., Heller, A., Hoffmann, F., Huttegger, I., Jakob, T., Klimek, L., Kopp, M. V., Kugler, C., Lange, L., Pfaar, O., Rietschel, E., Rueff, F., Schnadt, S., Seifert, R., . . . Brockow, K. (2021, 28. Januar). Guideline (S2k) on acute therapy and management of anaphylaxis: 2021 update. Allergo Journal International, 30(1), 1–25. https://doi.org/10.1007/s40629-020-00158-y
- Universitätsklinikum Ulm – Süddeutsche Angioödemzentrum. (2021). Angioödem. uniklinik-ulm.de. https://www.uniklinik-ulm.de/hals-nasen-und-ohrenheilkunde/sprechstunden-ambulanzen/angiooedem.html