Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe (Recht – Teil 2)

In Teil 2 unsere Serie zum Thema Recht geht es nun um Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe. Und damit unter anderem um das Thema Notwehr und rechtfertigender Notstand, aber auch um die Pflichtenkollision und die (mutmaßliche) Einwilligung!

Rechtfertigungsgründe

Unter Rechtfertigungsgründen versteht man solche Umstände, die die Rechtswidrigkeit (also das Erfüllen eines Tatbestands) einer Handlung ausschließt.

Die für den Rettungsdienst regelmäßig relevanten Rechtfertigungsgründe werden dabei im Folgenden einzeln erklärt.

Notwehr – § 32 StGB / § 277 BGB

Notwehr – § 32 StGB

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Wird ein Angriff auf einen selbst abgewendet spricht man von Notwehr, wird der Angriff von einem Anderen abgewendet von Nothilfe.

Es müssen dabei folgende Voraussetzungen zwingend erfüllt sein:

  1. Angriff auf ein Rechtsgut
    Es muss sich um einen Angriff handeln, dieser ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter. Zudem muss der Angriff sich gegen ein Individualrechtsgut richten (Leib oder Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum).
  2. Gegenwärtigkeit des Angriffs
    Der Angriff ist gegenwärtig, wenn die Rechtsgutverletzung unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch andauert. Bereits abgeschlossene Angriff sind daher nicht von der Notwehr abgedeckt!
  3. Rechtswidrigkeit des Angriffs
    Der Angriff muss auch rechtswidrig sein, dies liegt immer dann vor, wenn gegen eine Rechtsnorm verstoßen wird. Ausgenommen sind aber z.B. Festnahmehandlungen der Polizei bei Vorliegen eines Haftbefehls.

Beispiel

A wird von Räuber R angegriffen, daraufhin schlägt A auf R ein, bis dieser angriffsunfähig ist.

rechtfertigender Notstand – § 34 StGB

rechtfertigender Notstand – § 34 StGB

Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

Der rechtfertigende Notstand regelt eine Konfliktsituation zwischen zwei rechtlich geschützten Interessen. Er erlaubt grundsätzlich die Verletzung des von der Rechtsordnung geringer bewerteten Interesses, wenn der Notstandstäters keine andere Möglichkeit zum Handeln hat, um das höherwertige Interesse zu schützen.

Im Gegensatz zur Notwehr (§ 32 StGB) ist beim rechtfertigen Notstand (§ 34 StGB) eine Abwägung zwischen den beiden betroffenen Rechtsgütern erforderlich.

Es müssen dabei folgende Voraussetzungen zwingend erfüllt sein:

  1. notstandsfähiges Rechtsgut
    Notstandsfähig sind alle Güter, die durch die Rechtsordnung geschützt werden, ein spezifischer Schutz durch das Strafrecht muss nicht erfolgen. Der § 34 StGB benennt hierzu explizit einzelne Rechtsgüter, umfasst sind aber beispielsweise auch die Menschenwürde, die Intimsphäre aber auch die Verkehrssicherheit.
  2. gegenwärtige Gefahr
    Die Gefahr muss gegenwärtig sein, also unmittelbar bevorstehen, bereits stattfinden oder andauern. Jede Gefahr ist durch den § 34 StGB gedeckt, sie muss nicht von Menschen, sondern kann auch von der Natur, ausgehen.

Sofern beide Voraussetzungen erfüllt sind, kann der Notstandstäters eine Handlung vornehmen, welche zur Abwehr der Gefahr erforderlich, verhältnismäßig und angemessen ist.

  1. Erforderlichkeit der Notstandshandlung
    Die Gefahr darf nicht anders abwendbar sein und die Handlung muss das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellen um die Gefahr abzuwenden.
  2. Verhältnismäßigkeit
    Die Notstandshandlung ist verhältnismäßig, wenn das geschützte Interesse dem beeinträchtigten Interesse wesentlich überwiegt. So sind Personenwerte beispielsweise immer höher als Sachwerten gewichtet.
  3. Angemessenheit
    Die Notstandshandlung ist angemessen, wenn das Verhalten des Notstandstäters auch nach den anerkannten Wertvorstellungen der Allgemeinheit als eine sachgemäße und dem Recht entsprechende Lösung der Konfliktlage erscheint.

Beispiel

Eine Rettungswagenbesatzung wird in einen Wald gerufen, dort hat ein Hundehalter einen Herzinfarkt erlitten. Jedoch beschützt der Hund sein Herrchen und lässt eine Behandlung nicht zu. Ein zufällig anwesender Jäger erschießt daraufhin den Hund. Da die Gefahr nicht anders abzuwenden war und eine andere Handlung ohne Erfolg gewesen wäre, ist der Jäger durch § 34 StGB gerechtfertigt gewesen.

Pflichtenkollision

Eine Pflichtenkollision liegt immer dann vor, wenn sich jemand mit mehreren gleichzeitig und sofort erfüllbaren Handlungspflichten konfrontiert sieht, er aber nur eine davon erfüllen kann.

Bei zwei unterschiedlich wertigen Handlungspflichten muss eine Abwägung stattfinden und der Handelnde muss die höherwertige Handlungspflicht erfüllen. Bei einer gleichartigen Handlungspflicht steht ihm die Entscheidung frei, er muss aber zwingend eine von beiden auf Kosten der anderen erfüllen.

Ist der Handelnde nach diesem Grundsatz verfahren, handelt er nicht rechtswidrig. (Umstritten ist, ob es sich um einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund handelt, wobei die herrschende Meinung von einem Rechtfertigungsgrund ausgeht.)

Beispiel

Ein Notarzt muss sich bei einem Verkehrsunfall um zwei gleichwertig Verletzte kümmern. Einer der beiden verstirbt noch an der Einsatzstelle.

(mutmaßliche) Einwilligung – § 228 StGB / § 630 d BGB

Einwilligung – § 228 StGB

Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.

Einwilligung – § 630 d BGB

(1) Vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme, insbesondere eines Eingriffs in den Körper oder die Gesundheit, ist der Behandelnde verpflichtet, die Einwilligung des Patienten einzuholen. Ist der Patient einwilligungsunfähig, ist die Einwilligung eines hierzu Berechtigten einzuholen, soweit nicht eine Patientenverfügung nach § 1901a Absatz 1 Satz 1 die Maßnahme gestattet oder untersagt. Weitergehende Anforderungen an die Einwilligung aus anderen Vorschriften bleiben unberührt. Kann eine Einwilligung für eine unaufschiebbare Maßnahme nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf sie ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht.
(2) Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt voraus, dass der Patient oder im Fall des Absatzes 1 Satz 2 der zur Einwilligung Berechtigte vor der Einwilligung nach Maßgabe von § 630e Absatz 1 bis 4 aufgeklärt worden ist.
(3) Die Einwilligung kann jederzeit und ohne Angabe von Gründen formlos widerrufen werden.

Grundsätzlich muss vor Durchführung aller medizinischen Maßnahmen eine Einwilligung des Patienten erfolgen, hierzu Bedarf es einer ausführlichen Aufklärung welche in § 630 d BGB beschrieben ist.

Problematisch wird es, wenn die Patienten nicht einwilligungsfähig sind, weil beispielsweise ein Intox vorliegt, die Patienten an einer Demenz leiden oder bewusstlos sind. In diesen Fällen ist die mutmaßliche Entscheidung der Patienten maßgeblich. Wenn diese positiv wäre, spricht man von einer mutmaßlichen Einwilligung.

Das eingesetzte Rettungsdienstpersonal muss sich die Frage stellen: „Was würde dieser konkrete Patient entscheiden, wenn er dazu in der Lage wäre?“ Hierzu muss der Behandler sich ernsthaft um die Erforschung des Patientenwillens bemühen und nicht einfach seine eigene oder eine allgemeingültige Vorstellung an diese Stelle setzen.

Sollte sich der Behandler im Irrtum befunden haben und der Patient später erklären, er hätte seine Einwilligung nicht gegeben, hat der Behandler aber ernsthaft versucht den Patientenwillen herauszufinden, so handelt er nicht rechtswidrig.

Problemfälle die regelmäßig eine konkrete Abwägung benötigen sind dabei religiöse Patienten (beispielsweise der religiöse Verzicht auf lebensrettende Bluttransfusionen), der (nicht-vollendete) Suizid oder die Angaben von Angehörigen bzw. die Daten einer veralteten Patientenverfügungen.

Beispiel

Ein Notarzt wird zu einer nicht-ansprechbaren Person alarmiert. Im Laufe des Einsatzes stellt sich heraus, dass der Patient einen Herzinfarkt erlitten hat. Da der Patient erst 40 Jahre alt ist und keine Unterlagen bei sich hat, geht der Notarzt davon aus, dass der Patient eine Behandlung erwünscht. Es liegt eine mutmaßliche Einwilligung vor, der Notarzt legt einen Zugang und verabreicht Medikamente.

Entschuldigungsgründe

Unter Entschuldigungsgründen versteht man solche Umstände, bei deren Vorliegen die individuelle Vorwerfbarkeit der Schuld so weit herabgesetzt ist, dass die Tat nicht mehr als strafwürdig anzusehen ist. Die Rechtswidrigkeit der Tat ist aber weiterhin gegeben.

Notwehrexzess – § 33 StGB

Notwehrexzess – § 33 StGB

Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.

Der § 33 StGB regelt den Notwehrexzess, dieser liegt dann vor, wenn der Notwehrtäter den Angriff bereits abgewendet hat aber weiter eine Notwehrhandlung durchführt. Der Notwehrtäter wird nicht bestraft, wenn er die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet.

Beispiel

A wird von Räuber R angegriffen, daraufhin schlägt A auf R ein, bis dieser angriffsunfähig ist. Da A Angst vor einem weiter Angriff von R hat, schlägt A weiter auf R ein.

entschuldigender Notstand – § 35 StGB

Anders als beim rechtfertigenden Notstand bleibt die tatbestandsmäßige Handlung beim entschuldigenden Notstand gemäß § 35 StGB rechtswidrig. Allein die persönliche Vorwerfbarkeit und der damit verknüpfte Schuldvorwurf sind so weit herabgesetzt, dass von einer Bestrafung abgesehen wird, weil ein Entschuldigungsgrund vorliegt.

Der entschuldigende Notstand spielt in der Rechtspraxis kaum eine Rolle und kommt nur sehr selten zur Anwendung (Beispiel: Befehlsnotstand). Aus diesem Grund wird er hier nicht weiter besprochen.

Schuldausschließungsgründe

Zuletzt seien auch noch die Schulausschließungsgründe angesprochen, bei denen der Schuldgehalt der Tat vollständig entfällt.

Verbotsirrtum – § 17 StGB

Verbotsirrtum – § 17 StGB

Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Beispiel

Ein Fluggast ist auf der Reise von Moskau nach Toronto, als das Flugzeug aufgrund von technischen Problemen in Frankfurt landet. Während seines Aufenthaltes in Frankfurt verstößt der Fluggast gegen ein deutsches Gesetz, welches es weder in Russland noch in Kanada in dieser Form gibt. Der Fluggast ist entschuldigt, da er über kein Wissen der deutsche Gesetze verfügt und auch nicht muss, da er nie in Deutschland einreisen wollte.

Schuldunfähigkeit

Grundsätzlich wird die Schuldfähigkeit bei allen erwachsenen Tätern grundsätzlich vermutet. Da die Gründe für eine Schuldunfähigkeit vielseitig sind, wird im Folgenden als Beispiel lediglich der § 20 StGB vorgestellt.

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen – § 20 StGB

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Beispiel

Patient P ist aufgrund einer seelischen Störung in einer Klinik untergebracht, aufgrund einer Notfallsituation muss er mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht werden. Auf der Fahrt schlägt er der Notfallsanitäter N. Da bei P eine seelische Störung festgestellt wurde, aufgrund derer er das Unrecht der Tat nicht einsehen kann, ist P schuldunfähig.

Nächstes Mal…

… geht es um die Garantenstellung, sowie um das Begehen einer Tat durch aktives Tun oder Unterlassen. In Teil 3 unserer Serie zum Thema Recht klären wir dazu spannende Fragen und bringen Licht ins Dunkle (ab Mittwoch 14.09.2022).


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Inhaltsverzeichnis

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Luca H.

Notfallsanitäter, PAL, OrgL & Brandmeister (Berufsfeuerwehr Oldenburg)

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