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Immobilisation: Ja oder Nein?

Man kann den Eindruck bekommen, kein Thema wird in der präklinischen Notfallmedizin aktuell so kontrovers diskutiert, wie die Wirbelsäulenimmobilisation. Nun ist ein Review zu diesem Thema erschienen und will eine neue Entscheidungshilfe zur Frage “Wirbelsäulenimmobilisation: Ja oder Nein?” etablieren.

In diesem Fachtext fassen wir die Inhalte des Reviews kurz zusammen und gehen auf wichtige Knackpunkte ein.

Das Review mit dem Namen “Entscheidungshilfe zur prähospitalen Wirbelsäulenimmobilisation (Immo-Ampel)” erschien im Deutschen Ärzteblatt, Jahrgang 119, Heft 44. Es werte eine Vielzahl an Publikationen zum Thema aus und greift auf Daten des Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zurück.

4S – Risikofaktoren

Im Rahmen der Datenanalyse des Traumaregisters der DGU sind den Autoren vier unabhängige Risikofaktoren aufgefallen, welche auf ein steigendes Risiko von Wirbelsäulenverletzungen bei den betroffenen Patienten hindeuten.

  • Seniorität > 65 Jahren
  • Sturz aus > 3 m Höhe
  • supraklavikuläre Verletzungen
  • schwere thorakoabdominelle Begleitverletzungen

Hierbei gilt zu beachten, dass das Lebensalter von > 65 Jahren nicht als festes Alter gesehen werden soll, sondern das Risiko mit zunehmenden Alter weiter steigt.

Beim Sturz aus > 3 m Höhe sollte auch andere, energetisch vergleichbare Kinematik, als Risikofaktor wahrgenommen werden und entsprechend bei der Frage nach einer Immobilisierung beachtet werden.

Immo-Ampel

Mit der “Immo-Ampel” wollen die Autoren, basierend auf der Auswertung der zugrunde gelegten Literatur, eine neue Entscheidungshilfe zur prähospitalen Wirbelsäulenimmobilisation neben den NEXUS-Kriterien und der Canadian C-Spine Rule (CCR) etablieren. Eine Validierung des Tools im Alltag steht aber noch aus.

Dies ergibt vor allem dahingehend Sinn, dass die NEXUS-Kriterien und die CCR eigentlich nie als präklinisches Tool gedacht waren, sondern für die innerklinische Fragestellung nach einer möglicherweise notwendigen Bildgebung entwickelt worden sind. Der Rettungsdienst hat diese Tools lediglich aufgrund fehlender eigener Vorgehensweisen adaptiert und mittlerweile zum Standard gemacht.

Die Immo-Ampel soll bei erwachsenen auskunftsfähigen Patienten eingesetzt werden, wobei akute ABC-Probleme immer prioritär gegenüber einer Immobilisation behandelt werden sollten.

Immo-Ampel als Entscheidungshilfe zur prähospitalen Wirbelsäulenimmobilisation (basierend auf der ursprünglichen Grafik aus dem Deutschen Ärtzeblatt)

Kategorie Rot – vollständige Immobilisation erforderlich

Patienten bei denen die Untersuchungsbefunde auf eine Wirbelsäulenverletzung hinweisen, sollen vollimmobilisiert werden, wobei das Verfahren mit welchem diese Immobilisation erreicht wird, nebensächlich ist.

Hierzu zählen neben offensichtlich Schwerverletzen auch Patienten mit SHT mit GCS ≤ 12 oder mit peripheren neurologischen Defizit. Wirbelsäulenschmerzen mit NRS ≥ 5 sollten als “red flag” verstanden werden und zwingend eine vollständige Immobilisation nach sich ziehen.

Vermutlich werden die meisten Rettungsdienste zur Vollimmobilisation auf eine Vakuummatratze mit Headblocks oder eine manuelle In-Line Stabilisierung zurückgreifen, da der Stifneck immer weiter aus dem Rettungsdienst verschwindet.

Kategorie gelb – Bewegungseinschränkung erwägen

Als Zwischenstufe zwischen Vollimmobilisation und keiner Immobilisation kommt in der Kategorie Gelb die Bewegungseinschränkung zum Tragen. Die Untersuchungsbefunde sind unauffällig, allerdings liegt mindestens einer der oben genannten Risikofaktoren der 4S vor.

  • Seniorität > 65 Jahren
  • Sturz aus > 3 m Höhe
  • supraklavikuläre Verletzungen
  • schwere thorakoabdominelle Begleitverletzungen

Das Ziel der Bewegungseinschränkung soll eine Stabilisierung gegen unwillkürliche Bewegungen bei erhaltener Rumpfkontrolle darstellen und die Gefahr von Folgeverletzungen durch diese Bewegungen einzuschränken. Es könnte z.B. eine Vakuummatratze mit Headblocks nur im Bereich des Kopfes angewendet werden oder auch eine manuelle In-Line Stabilisierung erfolgen.

Kategorie grün – keine Immobilisation erforderlich

Bei Patienten mit unauffälligen Untersuchungsbefund oder einer isolierten penetrierenden Verletzung des Rumpfs ohne Risikofaktoren sollte keine Immobilisation erfolgen.


Quelle

  • Häske, D., Blumenstock, G., Hossfeld, B., Wölfl, C., Schweigkofler, U. & Stock, J. P. (2022). The Immo traffic light system as a decision-making tool for prehospital spinal immobilization—a systematic review. Deutsches Ärzteblatt international. https://doi.org/10.3238/arztebl.m2022.0291

Inhaltsverzeichnis

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Luca H.

Notfallsanitäter, PAL, OrgL & Brandmeister (Berufsfeuerwehr Oldenburg)

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