Schwere Geburt? Die Entbindung in der Präklinik

Ein Dienstagnachmittag auf deiner Landrettungswache, bisher ist alles ruhig, du sitzt auf dem Sofa und bereitest dich mental schon auf den Feierabend vor – da piept der Melder: “Beginnende Geburt, 39. SSW, Wehen <5 Minuten”. Das mitalarmierte NEF kommt aus dem Nachbarkreis und wird 20 Minuten bis zum Eintreffen am Einsatzort benötigen. Du versuchst dich an den Gynäkologie-Unterricht in der Ausbildung zu erinnern, der damals für eine solche Einsatzmeldung möglicherweise etwas zu kurz gekommen ist. Was wird deine Aufgabe sein, falls ihr es nicht mehr in den Kreißsaal schafft? Wie läuft so eine Geburt eigentlich ab? Wo ist nochmal das Abnabelungsset? Für die letzte Frage musst du auf die Checkliste deines RTWs gucken, für fast alle anderen haben wir diesen Text geschrieben!

Als ihr am Einsatzort eintrefft findet ihr einen aufgeregten Vater vor, der euch zu seiner offensichtlich schmerzgeplagten Frau bringt. Der Abstand zwischen den Wehen ist mittlerweile auf <3 Minuten geschrumpft. Zwischen zwei Wehen erklärt sie euch, dass sie bereits zwei gesunde Kinder zur Welt gebracht hat und es sich anfühlt, als würdet ihr es nicht mehr in die Klinik schaffen.

Vorbereitung

Das Wichtigste zuerst: Ruhe bewahren! Die Geburt ist ein natürlicher Vorgang in dem wir i.d.R. nur unterstützend tätig werden müssen. In der heutigen Zeit sind zudem beinahe alle Schwangeren bei vielen Voruntersuchungen gewesen, so dass das Risiko für lebensbedrohliche Komplikationen (beispielsweise durch eine kritische Lage des Kindes) minimiert wurde. Bei Frauen, die bereits ein oder mehrere Kinder auf natürlichem Wege zur Welt gebracht haben, ist zudem meist eine hohe Compliance gegeben.


Sollte die Entscheidung getroffen werden, die Geburt vor Ort durchzuführen, kann es helfen eine geschützte Atmosphäre zu schaffen (falls dies nicht bereits geschehen ist). In den Entscheidungsprozess sollte dabei u.a. der Wehenabstand miteinbezogen werden – sind die Abstände zu kurz und die Geburt steht unmittelbar bevor, empfiehlt es sich in der häuslichen Umgebung zu verbleiben, da eine Geburt im RTW aufgrund von Platzmangel deutlich herausfordernder werden kann. Du solltest dich auf einen möglichen Stuhl- und Urinabgang vorbereiten, das sind “Nebenwirkungen” der Bemühungen, das Baby durch den Geburtskanal zu pressen – gib allen Anwesenden nicht das Gefühl sich dafür schämen zu müssen, sondern bleib professionell und einfühlsam.
Bereits vor dem eigentlichen Geburtsvorgang sollte die Vorbereitung von Abnabelungsbesteck sowie Absaugmöglichkeiten erfolgen. Hierbei muss unbedingt beachtet werden, dass eine normale Absaugpumpe nicht geeignet ist, um ein Neugeborenes abzusaugen, da viele empfindliche Strukturen verletzt werden könnten. Ein Oro-Absauger sollte normalerweise im RTW zu finden sein und zur Anwendung kommen. Keine Angst: das Abgesaugte wird nicht in euren Mund gelangen, der “Sog” kann so aber am besten dosiert werden. Bezieh andere Anwesende mit ein um z.B. lauwarmes Wasser und trockene Handtücher zu besorgen. Diese wissen in der Regel auch, wo der Mutterpass zu finden ist, aus dem du wertvolle Informationen über den Verlauf der Schwangerschaft und eventuelle Auffälligkeiten gewinnen kannst.

Solltet ihr euch am Einsatzort für einen Transportversuch entschieden haben und auf der Fahrt merken, dass die Geburt beginnt, ist der RTW selbstredend anzuhalten, nicht nur zur Sicherheit, auch damit ihr zu zweit die Geburt begleiten könnt.

Aber genug zur Vorbereitung – Schauen wir nun, wie eine physiologische (vaginale) Geburt abläuft.

Eröffnungsphase

Diese Phase ist gekennzeichnet durch regelmäßige Wehen (alle 3-6 min.), die den unteren Teil der Gebärmutter erweitern und den Gebärmutterhals dehnen. Ein Aufplatzen der Fruchtblase und Fruchtwasserabgang ist in dieser Phase bereits möglich. Die Dauer dieser Phase variiert stark, ist jedoch bei Erstgebärenden deutlich länger als bei Schwangeren die bereits Kinder bekommen haben. Eine Beurteilung der Öffnungsweite des Muttermundes durch unerfahrenes Rettungsdienstpersonal, wie sie in der Klinik durchgeführt wird, ist mit äußerster Vorsicht zu genießen und sollte nicht als Kriterium herangezogen werden, wenn es um das Treffen einer Transportentscheidung geht.

Austreibungsphase

Ist der Muttermund vollständige geöffnet (10 cm), beginnt die Austreibungsphase. In dieser Phase wird das Kind durch zwanghaftes reflektorisches Pressen durch das Becken und den Geburtskanal gedreht. In der Austreibungsphase können unterstützend die inneren und äußeren Schamlippen zur Seite geschoben werden, um dem Kopf mehr Platz zu verschaffen. Außerdem kann eine leichte Druckausübung auf den Damm (Bereich zwischen Scheide und Anus) einen schmerzhaften Riss in diesem Bereich vorbeugen. Die Kommunikation und psychische Begleitung durch den Geburtsvorgang ist eine der Hauptaufgaben des Rettungsdienstes.

Nachdem durch eine weitere Presswehe der Kopf zum Vorschein gekommen ist, dreht sich das Kind weiter, damit zuerst die erste Schulter und im Verlauf die zweite (meist sehr viel schneller) geboren werden kann. Während der gesamten Geburt kann immer wieder der Eindruck entstehen, dass die Geburt “anhält”. Diese Stagnation des Geburtsvorganges ist auf die kurzen Pausen zwischen den Presswehen zurückzuführen und sollte dich nicht verunsichern (Beispiel: Der Kopf ist bereits geboren, während vom Körper noch nichts zu sehen ist). Ein Ziehen am Neugeborenen ist also unbedingt zu unterlassen. Der natürliche Ablauf wird lediglich unterstützt! Achte also unbedingt auf die “Vorgabe” der Bewegungen vom Neugeborenen und führe diese höchstens sanft mit aus.

Nachgeburtsphase

5 – 30 min nach der eigentlichen Geburt setzen dann die Nachwehen ein, bei denen sich die Eihäute und v.a. die Plazenta lösen. Durch das zusammenziehen der Gebärmutter verschließt sich die entstandene Wunde meist zügig. Hierbei ist zu beachten, dass auf keinen Fall an der Nabelschnur gezogen werden sollte um die Plazenta (Mutterkuchen) zu “bergen”. Außerdem sollte die Plazenta für innerklinische Untersuchungen aufbewahrt werden.

Versorgung des Neugeborenen

Das Neugeborene sollte unmittelbar nach der Geburt bereits das erste mal untersucht werden. Zur Verlaufsbeurtleilung kommt hierbei der APGAR-Score zum Einsatz. Das Kind wir nach 1, 5 und 10 Minuten beurteilt. Lasst euch nicht verunsichern, wenn beispielsweise die Sauerstoffsättigung zu Beginn noch nicht bei 98% liegt, die Lungen des Babys müssen sich erst entfalten und der Kreislauf passt sich an. Am besten legt man das Kind bei einer unauffälligen Erstuntersuchung auf die Brust der gebärenden Person und sorgt für ausreichend Wärme. Eine primäre Abnabelung ist nicht erforderlich. Achte bei der Geburt aber unbedingt auf die Uhrzeit, zu der das Kind das Licht der Welt erblickt hat.

In der Zwischenzeit ist das NEF eingetroffen und findet euch mit einem gesunden Kind und einer erschöpften Mutter vor. Nach einer weiteren Untersuchung durch den Notarzt nabelt ihr das Kind ab und fahrt in die 20 Minuten entfernte Klinik.

Fazit

Mit ein wenig Vorbereitung auf der Anfahrt und Ruhe sollte dich das Einsatzstichwort “beginnende Geburt” also nicht in Panik versetzen. Abgesehen davon, dass heutzutage sowieso die wenigsten Geburten in häuslicher Umgebung ohne Hebamme stattfinden, rufe dir immer wieder vor Augen, dass das Kind sich seinen Weg von sich aus “sucht” und du hierbei einen ohnehin stattfindenden Vorgang nur unterstützt. Im Nachhinein wirst du dann realisieren, was für einem wunderschönen Moment du gerade beiwohnen durftest!

Wichtig: Dieser Text behandelt lediglich die physiologische Geburt eines gesunden Kindes. Natürlich kann es in absoluten Ausnahmefällen auch zu Notfallsituationen kommen (bis hin zur Neugeborenenreanimation), welche aber in einem weiteren Text besprochen werden.

Inhaltsverzeichnis

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Wiebke v. H.

Notfallsanitäterin & Auszubildende zur ATA (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf)

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